Funktionaler Analphabetismus
Definition
Inwieweit eine Person als funktionale Analphabetin oder funktionaler Analphabet gilt, hängt davon ab, welche schriftsprachlichen Anforderungen die Gesellschaft stellt, in der diese Person lebt:
"Funktionaler Analphabetismus ist gegeben, wenn die schriftsprachlichen Kompetenzen von Erwachsenen niedriger sind als diejenigen, die minimal erforderlich sind und als selbstverständlich vorausgesetzt werden, um den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden. Diese schriftsprachlichen Kompetenzen werden als notwendig erachtet, um gesellschaftliche Teilhabe und die Realisierung individueller Verwirklichungschancen zu eröffnen [1]."
Die Zielgruppe kennenlernen
Wer hat Alphabetisierungs- und Grundbildungsbedarf?
Von den Deutsch sprechenden Erwachsenen lasen und schrieben im Jahr 2018 12,1 Prozent auf einem niedrigen Kompetenzniveau. Das bedeutet, dass eine Person nur bis zur Ebene einfacher Sätze lesen und schreiben kann. In der Systematik der LEO-Studie wird der Bereich geringer Lese- und Schreibkompetenz mit den Alpha-Levels 1 bis 3 beschrieben [2].
In der Gesamtgruppe funktionaler Analphabet*innen finden sich laut leo. – Level-One Studie
- mehr Ältere als Jüngere,
- mehr Menschen mit Deutsch als Erstsprache (52,6 %),
- mehr Männer (58,4 %) als Frauen,
- mehr Erwerbstätige (62,3 %) als Arbeitslose (12,9 %).
Informieren Sie sich über die weiteren Ergebnisse der LEO-Studie 2018. (Öffnet in einem neuen Tab)
Ursachen
Die Ursachen für funktionalen Analphabetismus sind vielfältig und von Fall zu Fall verschieden. In der Regel ergeben sie sich erst aus einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die für sich allein genommen noch nicht zu funktionalem Analphabetismus führen würden, zum Beispiel schulische, familiäre, kulturelle oder persönliche Faktoren.
Gründe können im familiären Umfeld liegen: Wenig Lernunterstützung aus Zeitmangel/Überforderung oder fehlende räumliche Rückzugsorte zum Lernen können den Lese- und Schreiberwerb ebenso erschweren wie eine schwierige Familiensituation (finanzielle Probleme, Trennung, Konflikte, Gewalt,…). Fehlen Kindern Lese- und Schreibvorbilder oder sammeln sie keine präliteralen Erfahrungen, starten sie mit anderen Voraussetzungen in den Schriftspracherwerb.
Mögliche Faktoren in der Schule können z. B. unzureichende Förderung, Mobbing/Ausgrenzung oder überfordertes Lehrpersonal sein. Auch häufige Lehrerwechsel oder demotivierende Erfahrungen können das Lernen erschweren.
Persönliche, gesundheitliche oder situative Faktoren spielen oft auch eine Rolle: Zum Beispiel Seh- oder Hörschwierigkeiten werden (zu) spät erkannt, das Lernen wird erschwert durch Legasthenie oder durch Krankheit unterbrochen, die Person musste häufig die Schule wechseln oder hat ein geringes Selbstvertrauen und wenig Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Lese- und Schreibkenntnisse können auch verlernt werden, wenn sie selten angewandt werden.
Nicht zuletzt können auch kulturelle Faktoren zur Entstehung von Lese- und Schreibschwierigkeiten beitragen, zum Beispiel wenn als Folge von Migration geringe Deutschkenntnisse in der Schulzeit vorliegen und/oder Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb in der Zweitsprache bestehen.
Die Aufzählung ist nicht abschließend.
[1] B. Egloff, M. Grosche, P. Hubertus, J. Rüsseler, Funktionaler Analphabetismus im Erwachsenenalter: eine Definition. In: Zielgruppen in Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener: Bestimmung, Verortung, Ansprache. Bielefeld 2011, S, 11-31
[2] A. Grotlüschen, W. Riekmann: Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo. – Level-One Studie. Reihe: Alphabetisierung und Grundbildung (Band 10), hrsg. vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e. V., Münster 2012, S. 19ff