Gisela Lorenz & Andreas Baumann, veröffentlicht am 26.07.18
Herr Prof. Meyerhöfer, dass es viele Erwachsene in Deutschland gibt, die nur fehlerhaft Schreiben und Lesen können ist inzwischen in Politik und Öffentlichkeit angekommen. Die Vermutung liegt nahe, dass es beim Rechnen ähnlich aussieht. Da es noch keine belegbaren Zahlen gibt: Trauen Sie sich eine grobe Schätzung der Zahl der Betroffenen zu?
Es reicht ja, wenn wir das über den Daumen peilen. Wir haben in jeder Grundschulklasse im Schnitt zwei bis drei Schüler*innen, die das basale Rechnen nicht beherrschen, also auf den Stufen 1 oder 2 des DVV-Rahmencurriculums Rechnen Unterstützung bräuchten. Davon können ein bis zwei auch als Erwachsene nicht viel mehr. Das verweist auf 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung. Für unsere Stufe 3, die den Stoff bis Klasse 8 abdeckt, kommen nochmal mindestens ebenso viele hinzu.
Das wären ja dann, je nach Zählart, 4,5 bis 9 Millionen, alleine unter den 20 bis 60-Jährigen!
Aber das sind natürlich keine echten Zielgruppen. Die Betroffenen haben gute Kompensationsstrategien, das reicht vom Vermeiden bis hin zu "um das Geld kümmert sich immer mein Mann". Ich dachte anfangs, unsere Zielgruppe würde darunter leiden, dass sie keine Fahrpläne und die Uhr nicht lesen kann. Das hat sich eher selten als Alltagsproblem erwiesen. Auch die Überschuldeten scheinen eher nicht den Weg in den Rechenkurs zu finden. Da sitzen bislang eher Leute, die „es jetzt doch mal lernen wollen“ und vor allem Leute, die sich auf Abschlüsse oder Einstellungs-Tests vorbereiten wollen. Mal sehen, ob wir es mit unserem Konzept von www.ich-will-lernen.de (Öffnet in einem neuen Tab) (jetzt: www.vhs-lernportal.de (Öffnet in einem neuen Tab)) schaffen, auch eine Dynamik im Sinne von "Ich spiel mit meinem Handy noch ein bisschen Mathe" zu entfachen.
Probleme mit dem Rechnen zu haben scheint weniger schambehaftet als Probleme mit Schreiben/Lesen. Haben Sie eine Idee, warum mit fehlenden Rechenkompetenzen sogar manchmal kokettiert wird?
Ich erlebe dieses Kokettieren eher als Versuch einer Trauma-Bearbeitung. Wenn man in der Schulzeit jede Woche vier Stunden durch einen Mathematikunterricht durch muss, der frustrierend und beschämend ist, dann liegt es nahe, die Bedeutsamkeit dieses Gegenstandes herunterzuspielen. Kulturell hat sich die Schulmathematik spätestens in den letzten 20 Jahren als ein Muss durchgesetzt. Die Selektionsfunktion des Mathematikunterrichts wird überhaupt nicht mehr hinterfragt, es ist überall Pflichtprüfungsfach, und die Behauptung, man könne alle Lebensbereiche mathematisieren, hat sich auf geradezu absonderliche Weise durchgesetzt. Viele Menschen glauben ja ernsthaft, dass die mathematische Modellierung von Partnerschaftsangeboten, von Schokocremegeschmack, von Intelligenz oder von Schulsystemqualität eine adäquate Abbildung der Realität herstellt. Der Mathematikunterricht stellt die Einarbeitung in diesen naiven Glauben her. Wir haben natürlich große Mühe, unsere Zielgruppe von diesem Glauben zu emanzipieren.
Es geht doch aber erst einmal ums Rechnen lernen.
Unsere Zielgruppe war bisher im Leben immer in vielerlei Hinsicht Objekt von Mathematik – sie werden ja andauernd in Zahlen gepresst, die ihr Selbst und ihr Sein nicht adäquat abbilden. Dieses Objektsein beginnt aber zunächst damit, dass um sie herum die meisten Kinder rechnen gelernt haben, wohingegen ihnen immer signalisiert wurde, dass sie das eben nunmal nicht könnten. Wir schauen im Kurs also immer wieder darauf, was genau die Teilnehmer*innen damals in der Schule nicht verstanden haben, welches Element ihnen gefehlt haben könnte. Wir haben es mit Opfern von schlechtem Unterricht zu tun. Es wurde einfach nie hingeschaut, auf welche Weise genau diese Menschen Zahlen und Operationen denken. Bereits ein wenig Aufmerksamkeit und ein paar wenige Gedanken hätten den Betroffenen erfolgreiches Lernen ermöglicht. Es geht im Kurs darum, sich als jemanden zu erleben, der das Rechnen lernen kann und der auch versteht, warum man so oder so rechnet.
Sie sagen: Richtige Ergebnisse sind kein Garant für verständiges Rechnen. Aber wie kommen Menschen zum richtigen Ergebnis, wenn sie nicht rechnen können? Können Sie uns dazu einige Beispiele nennen?
Wir gehen bis dorthin, wo das Nichtkönnen bzw. das Nichtverstehen anfängt und lernen das Rechnen von dort aus. Wenn die Teilnehmer*innen zählend rechnen, dann gehen wir quasi in den vorschulischen Bereich. Dann gilt es zunächst zu verstehen, dass eine Zahl eine Anzahl von etwas beschreibt. Die Teilnehmer*innen denken einerseits, dass Zahlen zum Rechnen da sind. Andererseits erleben sie Zahlen nicht in einer Anzahlbedeutung. Im Alltag bei Uhrzeiten, beim Datum oder beim Geld sieht man ja zunächst hinter den Zahlen keine Anzahlen. Das Rechnenlernen bezieht sich aber immer auf Anzahlen, also müssen die Teilnehmer*innen Zahlen als „Label“ für Anzahlen neu konzipieren. Sie müssen auch verstehen, dass Addieren und Subtrahieren ein spezifisches Agieren mit diesen Anzahlen bedeutet – nicht aber ein Hin-und-Her-Wandern auf der Zahlreihe. Dieses Verstehen ändert schon mal völlig die Sicht auf das Rechnen, dann muss das aber weitergeführt werden. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Teilnehmerin, die sich partout die Zahlzerlegungen der 8 in 5 und 3 nicht merken konnte, ein typischer Fall. Sie hatte nie an ihren Händen gesehen, dass dort diese Zahlzerlegung sichtbar ist. Sie fiel aus allen Wolken und konnte mit dieser Strukturhilfe schnell alle Zahlzerlegungen auswendig. Sie lernte dann übrigens auch schnell rechnen, sie dachte sehr mathematisch, das hatte sie im Unterricht immer behindert. Die große Herausforderung für die Ausbildung von Kursleitenden ist, dass sie das je spezifische mathematische Denken der Teilnehmer*innen wahrnehmen und weiterentwickeln können. Wir geben dafür in unseren Unterrichtskonzepten viele Hinweise, aber so richtig lernen können das die Kursleitenden erst, wenn wir mit ihnen konkrete Fälle diskutieren. Wir müssen Strukturen schaffen, damit die Kursleiter*innen Falldiskussionen führen können. In Ballungsräumen kann das über lokale Netzwerke laufen, in der Fläche läuft das auf monatliche Videokonferenzen hinaus, die dann auch honoriert werden müssen. So wie wir im vhs-Lernportal Tutor*innen haben, so benötigen wir auch für die Kursleiter*innen längerfristige Begleitung. Auch ich selbst fresse mich mit manchen Lernenden mal fest, und dann muss jemand mir ein paar einfache Fragen stellen, auf die ich selbst in diesem Moment keinen Zugriff habe. Grundbildungsarbeit ist eben näher an psychotherapeutischen Strukturen als normaler Unterricht.
Das DVV-Rahmencurriculum Rechnen ist sehr hierarchisch aufgebaut. Welches sind die wichtigsten Meilensteine, die Lernende verstehen müssen?
Die Stufe 1 befasst sich damit, die Teilnehmer*innen von ihren zählenden Rechenstrategien zu nichtzählenden Strategien im Zahlraum bis 30 zu begleiten. Das ist quasi die Aufgabe des Mathematikunterrichts in Klasse 1. Die Stufe 2 bildet den restlichen Grundschulstoff ab. Wir erarbeiten zunächst sehr gründlich ein Verständnis für den stellenwertbezogenen Aufbau der Zahlen, weil hier der Knackpunkt dafür liegt, dass unsere Zielgruppe in größeren Zahlräumen zunächst addieren und subtrahieren kann. Dann folgen Multiplikation und Division.
Stufe 3 hat einen völlig anderen Charakter. Sie ist nicht hierarchisch aufgebaut, sondern hier wird komplett entlang der Interessen der Teilnehmer*innen agiert. Das geht auf Stufe 1 und 2 nicht, denn das basale Rechnenlernen folgt einer tendenziell strengen Stufenfolge. Ich erlebe diesbezüglich aber keinen Widerstand, weil die Teilnehmer*innen einsehen, dass der Weg hier recht vorgezeichnet ist. Das emanzipatorische Element besteht hier darin, sich als jemanden zu konstruieren, der verstehen kann, warum die Rechenverfahren funktionieren – und der sie auch selbst erfinden kann. In Stufe 3 ist der emanzipatorische Anspruch dann noch weiter gefasst. Hier sollen die Teilnehmer*innen erleben, dass sie selbst die Welt quantifizieren können und dass sie Quantifizierungen verstehen und kritisch bewerten können. Um es in den Worten der Zielgruppe zu sagen: Es geht darum, dass man nicht mehr verarscht wird.
Auf welche Schwierigkeiten sind Sie bei der Entwicklung des DVV-Rahmencurriculum Rechnen und der zugehörigen Praxismaterialien gestoßen?
1. Der Kurs betreibt nachholenden Mathematikunterricht, das ist meines Erachtens der einleuchtendste Ansatz der sogenannten Rechenschwäche-Therapien. Wir denken diesen Ansatz hoch in die Erwachsenenwelt. Wir wissen aber wenig über die Zielgruppe und schreiben immerfort: "Sie müssen selbst herausfinden, wie Ihre Teilnehmer*innen den Gegenstand denken."
2. Wir haben Kursleitende vor Augen, die wenig Ahnung vom mathematischen Lernen haben und erstmals einen solchen Kurs geben. Wir nehmen sie an die Hand und führen sie sehr kleinschrittig durch den Kurs. Dieser Ansatz kracht natürlich an allen Ecken und Enden, denn das Besondere an der Zielgruppe ist ja gerade, dass jede*r die Zahlen und Operationen anders denkt. Die Kursleitenden müssten also eigentlich sehr erfahren sein, damit sie das Denken ihrer Teilnehmenden überhaupt einordnen können. Hinzu kommt, dass die Zielgruppe eigentlich Einzelförderungen benötigt. Wir bearbeiten das Problem durch eine Vielzahl von Arbeitsblättern, die Freiraum für eine Arbeit mit Einzelnen schaffen soll. Es könnte sich aber herausstellen, dass das Kursformat zumindest in den Stufen 1 bzw. 2 mit steigender Gruppengröße schwierig umzusetzen ist.
3. Ein großes Problem war für uns, dass der DVV für die Kurse eine Zeitbeschränkung vorsieht, wohingegen wir es für notwendig halten, den Kurs zunächst rein inhaltlich zu denken und erst danach zu einem Zeitplan zu kommen. Das Kurskonzept mit den dort angegebenen Stundenzahlen (120 Stunden für Stufe 1 und 2, 120 Stunden für Stufe 3) muss deshalb eher als Gedankenspiel und Strukturierungshilfe gedeutet werden, nicht als Zahl für die Praxis vor Ort.
Lernen Erwachsene anders Rechnen als Kinder/Jugendliche?
Ich habe ja vorhin von der Teilnehmerin erzählt, die mit fast vierzig Jahren ihre Finger als Strukturhilfe entdeckt hat und dann schnell rechnen lernte. Allerdings traf ich sie einige Monate später und sie berichtete, dass sie jetzt wieder mit den Fingern rechnet, weil es ihr so vertraut und kuschlig ist. Zählendes Rechnen ist eben auch ein bisschen wie Daumenlutschen oder Rauchen. Sie agierte nun zwar mathematisch emanzipierter, aber Erwachsenen fällt das Lernen im Ganzen natürlich schwerer. Wir haben aber an den Volkshochschulen – wahrscheinlich auch in den Justizvollzugsanstalten – motivierte Lerner*innen. Häufig befinden sie sich in Krisensituationen, Rechnenlernen ist für sie also auch eine Form der Krisenbearbeitung. Das ist ein spannenderes, oft auch fröhlicheres Unterrichten als mit Jugendlichen in Grundbildungskursen.
Auf der mathematischen Ebene machen wir in den Kursen 1 und 2 aber dasselbe wie mit Kindern, wir haben lediglich den ideologischen Kleister der vorgeblichen Kindorientierung weggekratzt und malen keine Katzen und Blümchen. In Kurs 3 läuft es etwas anders. Da sitzen Leute, die vielerlei Wissens- und Könnensfragmente haben. Da schauen wir auf echte Kreditverträge, auf Tankrechnungen, in Bedienungsanleitungen und Zeitungen. Da brummt´s viel mehr als in der Schule.
Was macht guten (nachholenden) Rechenunterricht aus? Können Sie Lehrkräften in der Erwachsenenbildung dazu drei Tipps geben?
Diese Tipps sind theoretisch leider etwas trivial und man glaubt deshalb schnell, dass man das leistet. Erst wenn man auf die Umsetzung schaut, tut es weh. Man muss sich also jemand Kritischen suchen, der im Kurs hospitiert und einem zeigt, inwieweit man das Folgende wirklich leistet:
1. Die Mengenebene und die Zahlenebene müssen permanent miteinander verknüpft werden. Die Teilnehmer*innen können u.a. deshalb nicht rechnen, weil sie als Kinder zu früh mit Zahlen arbeiten mussten und keine Chance hatten zu verstehen, was diese Zahlhandlungen unter Bezug auf Mengen, also auf Anzahlen, bedeuten.
2. Die Teilnehmer*innen müssen verbalisieren können, dass Zahlen sich aus anderen Zahlen zusammensetzen. Die 8 setzt sich zusammen aus 5 und 3, ebenso aus 6 und 2 usw., sie setzt sich aber ebenso zusammen aus 8 Einsen. Nur wenn man das versteht, erschließt sich der Sinn eines „Rechnens über die Zehn“ oder anderer Verfahren. Das gleiche Zusammensetzungsprinzip erschließt, dass die drei Dreien in der Zahl 333 jeweils völlig Unterschiedliches bezeichnen, nämlich 300 Einsen, 30 Einsen und 3 Einsen. Erst dieses Wissen motiviert die üblichen Rechenverfahren. Die Forderung, diese Zusammenhänge sprechen zu können, konstruiert einen hohen Anspruch, ist aber für unsere Zielgruppe der einzige Weg zu rechnerischem Können. Geübt haben diese Menschen genug in ihrem Leben, sie müssen sich den Gegenstand er-sprechen.
3. Man muss den Lernenden mit einer Fragehaltung begegnen: Wie denken Sie die Sache? Nur darum geht es. Unsere Zielgruppe hat fragmentarische, inkonsistente, einer seltsamen Dynamik von Funktionieren und Scheitern unterliegende mathematische Konzepte. Diese Konzepte in einem Kurs zusammenzubinden ist spannend, Spannendes ist aber eben auch mit Spannungen verbunden.
Interviewer*in
Gisela Lorenz arbeitet beim Deutschen Volkshochschul-Verband. Zum Zeitpunkt des Interviews war sie Referentin im Projekt Rahmencurriculum Transfer.
Andreas Baumann arbeitete beim Deutschen Volkshochschul-Verband als Referent im Projekt vhs-Lernportal.