Von Dr. Angela Rustemeyer
Nicht alle Angemeldeten haben sich an diesem kalten Januarmorgen zum Lese- und Schreibkurs in der vhs Frankfurt am Main eingefunden. Gekommen sind vier Frauen und zwei Männer. Kursleiterin Mandy Grosser beginnt mit dem Rückblick auf das Thema der vergangenen Woche: Doppelkonsonanten. Die stehen auch weiter auf dem Programm.
Ein paar Besonderheiten gibt es diesmal schon: Jemand vom DVV schaut zu. Jemand von der vhs fotografiert. Die Gäste werden aber kaum beachtet. Wenn sich die Frauen und Männer über ihre Unterlagen beugen, ist es sehr leise. Nur das Mineralwasser im Glas sprudelt vor sich hin.
Der Kurs ist ein Pilotprojekt, denn er wird fast ausschließlich mit Aufgabenblättern zu den DVV-Rahmencurricula Lesen und Schreiben gestaltet. Sie sollen die Grundlage bilden für einen systematischen Lese- und Schreibunterricht mit Erwachsenen, in dem Lernfortschritte erzielt werden. Kursleitende können aus rund 460 Aufgabenblättern auswählen. Zu jeder der gut 1600 Aufgaben gibt es Hinweise für den didaktisch geschickten Einsatz im Unterricht. Ein einfaches Tool, die Alpha-Kurzdiagnostik, hilft der Kursleiterin, vorab die Kenntnisse der Lernenden einzuschätzen.
Ingrid Rygulla, Programmverantwortliche für Grundbildung, kennt die DVV-Rahmencurricula seit Langem und hat dafür gesorgt, dass sie an der Volkshochschule Frankfurt am Main erprobt werden. Im Schnitt zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben sich zwischen Oktober 2018 und Januar 2019 jeden Montag drei Stunden lang mit den Aufgabenblättern beschäftigt. Nun ist der Kurs schon fast zu Ende.
Rechtschreibung: mit Logik gegen Angst
Mandy Grosser schreibt Verben in der Grundform sowie in der ersten und zweiten Person Singular an die Tafel. Eine Teilnehmerin vergleicht die Muster mit ihren eigenen Ergebnissen auf dem Aufgabenblatt vom DVV. Die Kursleiterin möchte, dass eine Regel verstanden wird: Die Grundform „kommen“ hat zwei „m“, also hat „du kommst“ das auch. Und noch etwas soll deutlich werden: Die beiden gleichen Mitlaute sind keine boshafte Falle, der man nur durch stures Auswendiglernen ausweichen kann, sondern eine Hilfe. Als unveränderliche Merkmale einer Wortfamilie machen sie es leichter, das Wort zu erkennen. Wer das versteht, verliert allmählich seine Angst vor der Rechtschreibung. Orthographie ist dann kein abschreckendes Chaos mehr. Nach und nach wird sie zu einem durchschaubaren System.
Einige im Kurs sprechen Deutsch als Zweitsprache, für andere ist es die Erstsprache. Stoßen Grammatikeinlagen wie die Konjugation von „kommen“ bei denen, die immer schon Deutsch gesprochen haben, auf Widerwillen? „Nein“, sagt Mandy Grosser: „Auch die Muttersprachler merken, dass ihnen die Grammatik beim Schreiben und Lesen weiterhilft“.
Lesen: einfach anfangen
Zwischendurch lässt Mandy Grosser immer wieder Lesephasen einlegen. Es soll gemeinsam halblaut und möglichst genau gelesen werden, selbst am Wortende. Auch darauf lassen sich die Lernwilligen ein. Die Texte sind inhaltlich oft schlicht, dafür jedoch leicht lesbar. „Die Lesbarkeit steht hier im Vordergrund“, sagt Frau Grosser. Die Texte sollten möglichst einen Bezug zum Alltag haben. Vor allem aber müssen sie einfach und angelehnt an die gesprochene Sprache formuliert sein. Überforderung entmutigt. Darum werden inhaltlich anspruchsvollere Texte, die den Konventionen der Schriftsprache folgen, erst denjenigen vorgelegt, die schon flüssig lesen können.
Sechs Personen – drei Lerngruppen
Am ersten Tisch beschäftigen sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit den leicht zu verwechselnden Buchstaben „d“ und „b“. Frau Grosser schreibt die Buchstaben aufs Flipchart. Am zweiten Tisch sind sie schon weiter. Am dritten Tisch sitzt ein Teilnehmer, der vieles korrekt schreibt und der fast schon Texte lesen kann, die die Wissenschaft als „konzeptuell schriftlich“ bezeichnet, wie zum Beispiel Zeitungsartikel.
Frau Grosser geht von Tisch zu Tisch, prüft, erklärt, korrigiert. Ingrid Rygulla, die heute auch gekommen ist, hilft mit. Zwei Dozentinnen sind nicht zu viele für die sechs Übenden. Die fertigen Aufgabenblätter aus den DVV-Rahmencurricula für vier verschiedene Lernniveaus erleichtern zwar die Unterrichtsvorbereitung, die Binnendifferenzierung im Lese- und Schreibkurs ähnelt aber weiter der Quadratur des Kreises.
Die Geschichten dahinter
Den Frauen und Männern geht es ums Lernen in diesen drei kurzen Unterrichtsstunden. Ihre persönlichen Geschichten erzählen sie erst danach. Alle vier Frauen kamen in ihrer Kindheit oder Jugend aus dem Mittelmeerraum nach Deutschland. Nur eine konnte vorher in ihrem Herkunftsland länger zur Schule gehen. Keine hat in Deutschland eine gründliche Schulausbildung erhalten. Alle haben ohne formale Ausbildung jahrzehntelang gearbeitet, eine mehr als 20 Jahre bei der Post: „Dafür reichte es“, sagt sie über ihre Lese- und Schreibkenntnisse − nicht aber für einen Schulabschluss. Jetzt hofft sie, diesem Ziel näherzukommen. Eine andere sagt von sich: „Ich war Analphabet“. Sie hat in einer Buchbinderei gearbeitet, die auch das vhs-Programm produzierte. In die vhs kam sie erst auf Umwegen. Und, weil Ingrid Rygulla unermüdlich ans Telefon geht, Anrufer in die vhs einlädt, zuhört, überzeugt und vermittelt. Die vier Frauen wollen, dass der Kurs weitergeht. Sie haben in ihrer Jugend Deutsch sprechen gelernt und mussten später einen komplexen Arbeitsalltag strukturieren. Jetzt macht es ihnen Freude, sprachliche Strukturen zu durchschauen.
Ein anderer Kursteilnehmer ist von hier. Auch er findet, dass der Kurs etwas bringt: In seinen SMS hat die Autokorrektur jetzt weniger zu tun. Er hat sich zusätzlich für einen Rechenkurs angemeldet. Von Beruf ist er Schausteller, baut eine Berg- und Talbahn auf: „20.000 Einzelteile: Bolzen, Keile, Splinte“. Er mag Systeme. Seine Kursleiterin weiß das zu nutzen.
Dr. Angela Rustemeyer leitet das Projekt Rahmencurriculum-Transfer beim DVV.