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Grundbildung

VHS Chance

Der innovative Bereich „VHS Chance“ der vhs Hannover bricht aus dem Denken in Programmbereichen aus und unterstützt fließende Übergänge in den Bildungsbiografien der Teilnehmenden.

Katharina Reinhold, veröffentlicht am 23.08.2018

Der innovative Bereich „VHS Chance“ der Ada- und Theodor-Lessing-Volkshochschule Hannover bricht aus dem Denken in Programmbereichen aus. Er bündelt gemeinwohlorientierte Angebote und unterstützt fließende Übergänge in den Bildungsbiografien der Teilnehmenden.

Ein Gespräch mit Dr. Susanne Kannenberg (Bereichsleiterin von VHS Chance, Stellvertretende Fachbereichsleiterin), Berit Staecker (Teamleiterin Schule für Erwachsene/Zweiter Bildungsweg), Martina Poick (Programmbereichsleiterin Alphabetisierung/Grundbildung)  und Janine Gunzenheimer, Bildungsberaterin im Team Integration.

Wie kam es zur Einrichtung der VHS Chance in Hannover?

Dr. Kannenberg: Im Zuge der Umwandlung der Volkshochschule zu einem Fachbereich der Landeshauptstadt Hannover im Jahr 2015 gab es grundsätzliche Neuüberlegungen zur Struktur. Vor dem Hintergrund, dass 2015 viele Geflüchtete nach Deutschland kamen und ein großer Bedarf an Sprach- und Alphabetisierungskursen entstand sowie angesichts der begrenzten Ressourcen, wuchs der Wunsch, die Bereiche Deutsch als Fremdsprache und Zweiter Bildungsweg enger miteinander zu verzahnen. Der Bereich VHS Chance bündelt nun die gemeinwohlorientierten Angebote und besteht aus den Teams Integration, Schule für Erwachsene, sowie Beruf und Karriere. Ein ganz wichtiger Bestandteil war von Beginn an die Einrichtung einer Bildungsberatung mit Schwerpunkt Integration als zentrales Scharnier zwischen Kunden und Angebot, um die tatsächlichen Bedarfe besser zu erfassen.

Welche Ziele verfolgt VHS Chance?

Kannenberg: Die Bedürfnisse der Kunden und Kundinnen sollten stärker in den Vordergrund gestellt und Synergien genutzt werden. Die Angebote sollen aufeinander aufbauen und miteinander abgestimmt sein, und es gibt Unterstützungsangebote für Menschen mit besonderen Bedarfen wie Migrationshintergrund, Fluchterfahrung, körperliche oder kognitive Beeinträchtigungen, Nachholen von Schulabschlüssen etc.
Die Bildungsberatung als zentrales Element ist eine Schnittstelle, die Orientierung bieten kann, die weiß, wer was tut, und die hilft, die Übergänge möglichst reibungslos im Sinne einer Bildungskette zu gestalten. Indem Anschlussperspektiven bis hin zum Berufseinstieg geschaffen werden, werden die Abbruchquoten verringert und weniger Teilnehmende „gehen verloren“.

Welche Zielgruppen spricht VHS Chance an?

Kannenberg: Die Angebote von VHS Chance richten sich an alle volljährigen Bürgerinnen und Bürger Hannovers, die Bildungsangebote nutzen möchten, aber nicht den für sie jeweils geeigneten Zugang finden. Die gesellschaftliche Teilhabe soll für alle Bevölkerungsschichten erhöht werden, die aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen Bildungsangebote kaum oder gar nicht in Anspruch nehmen.

Wie erfolgte die Umsetzung des Konzepts VHS Chance konkret?

Staecker: Die Sachgebiete innerhalb der Volkshochschule wurden neu eingeteilt, es gab neue Teamleitungen. Es wurden zusätzliche Stellen für Bildungsberaterinnen und die Sachbearbeitung geschaffen. Insgesamt ist mehr Austausch und Kommunikation nötig. Um die Abstimmung der verschiedenen Kursangebote zu verbessern und die Übergänge zu gestalten, wurden mehr Absprachen und Routinen eingeführt. Wir führen immer wieder Drittmittelprojekte durch und probieren Neuerungen aus. Insgesamt kann man schon sagen, dass das neue Konzept Mehrarbeit bedeutet. Doch wenn man ein starkes, motiviertes Team hat, das mitzieht, klappt es! Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben wir eine massive Verbesserung der Übergänge erreicht.

Gunzenheimer: Ich finde, man kann von einem Kulturwandel, von einer anderen Art des Arbeitens sprechen. Weg vom Denken in Programmbereichen hin zum Denken in Bildungsbiografien mit fließenden Übergängen. Alle Kolleginnen und Kollegen haben nun einen viel besseren Überblick darüber, wer eigentlich was macht.

Wie erreichen Sie die nahtlosen Übergänge in den Bildungsketten?

Poick: Bildungsketten können individuell sehr unterschiedlich aussehen. Uns geht es darum, aufeinander aufbauende Angebote zu schaffen, die Lücken in Bildungsbiografien verhindern beziehungsweise schließen. Curricula von bestehenden Kursangeboten wurden angepasst und somit Angebotslücken gefüllt. Die Bausteine der Bildungskette an der vhs Hannover umfassen Grundbildungsangebote, Sprachkurse, schulabschlussbezogene Kurse, berufsqualifizierende Kurse und Immaturen- und Deutschkurse für Höherqualifizierte/Offene Hochschule.
Bei den Grundbildungsangeboten kann man grob zwei Kernsegmente unterscheiden: Wir bieten zum einen allgemeine Grundbildungskurse an, zusätzlich gibt es Grundbildungskurse für Migrantinnen und Migranten, die Alphabetisierung und Spracherwerb kombinieren.

Staecker: Konzeptionell orientieren wir uns an festgelegten Kerncurricula und an definierten SOLL-Kompetenzen und führen regelmäßige Lernstandsfeststellungen durch. Die Teilnehmenden werden durch Kursleiter*innen, pädagogische Mitarbeiter*innen und Berufsorientierer* innen begleitet und beraten.

Welche Aufgaben übernimmt die Bildungsberatung?

Gunzenheimer: Die Bildungsberatung mit dem Schwerpunkt Integration ist Anlaufstelle für Kursteilnehmende und Interessierte. In Beratungsgesprächen erfragen wir die Wünsche und Bedürfnisse der Ratsuchenden und stellen ihnen passende Angebote und realistische Perspektiven für den weiteren Bildungsweg vor. Es nehmen vor allem Geflüchtete, die die Schulpflicht erfüllt haben und Personen mit Migrationshintergrund das Beratungsangebot wahr. Die Bildungsberatung ist zudem eine Entlastung für die Kursleitungen, die Teilnehmende mit Fragen zu Bildungswegen weiterleiten können.
Auch bei der Regelung der Übergänge nimmt die Bildungsberatung eine wichtige Rolle ein: Sie schafft Orientierung für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer und kommuniziert die Nachsteuerungsbedarfe aus Teilnehmer*innen-Sicht in die Teams und Sachgebiete. Bei externen Übergängen wie z.B. der Vermittlung von vhs-Teilnehmer*innen in Angebote anderer Bildungsträger ist es Aufgabe der Bildungsberatung, die Netzwerke zu erweitern, zu bündeln, zu systematisieren und allen Mitarbeiter*innen zugänglich zu machen.
Ein wichtiges Element ist unsere Sprachstandsfeststellung und Kompetenzbilanzierung. Sie erfolgt an der vhs Hannover mittels eigens entwickelter Kompetenzerfassungsbögen, welche in Kooperation mit der Agentur für Arbeit, dem Jobcenter und anderen Bildungsträgern entstanden sind. Solche Kompetenzbilanzierungen können im Rahmen ausführlicher Beratungsgespräche durchgeführt werden.

Wie gewinnen Sie Teilnehmende für Ihre Kurs- und Beratungsangebote?

Poick: Wir kooperieren eng mit den berufsbildenden Schulen. Viele Jugendliche werden dort entlassen ohne die Grundvoraussetzungen für den Arbeitsmarkt, wie Sprach- und Sozialkompetenzen, erlangt zu haben. Über das Bildungsbüro des Fachbereichs Schule und die dortige Beratung werden Teilnehmer*innen an uns vermittelt. Auch Sozialarbeiter*innen in Wohnheimen, soziale Einrichtungen, Ehrenamtliche oder das Jobcenter verweisen auf unsere Angebote. Sehr viele Interessierte kommen über persönliche Empfehlungen zu uns. Sie wenden sich an uns, weil ihr Bruder, Cousin oder Freund an einem unserer Kurse teilnimmt. Tatsächlich boomt unser Angebot für Deutschkurse und für den Zweiten Bildungsweg. Wir haben mehr Bewerber*innen als Plätze.

Gunzenheimer: Wir stellen die Bildungsberatung in den Kursen vor und bieten dort direkte Terminvereinbarungen an. Das ist persönlich, niedrigschwellig und funktioniert sehr gut.

Wie funktioniert die Vernetzung und Zusammenarbeit mit externen Partnern?

Gunzenheimer: Einen bedeutenden Teil meiner Tätigkeit als Bildungsberaterin macht die Vernetzung mit Akteuren der Bildungslandschaft in Hannover aus. Zu wissen, wer was macht, die Ansprechpartner persönlich zu kennen und sich regelmäßig auszutauschen ist immens wichtig. Es gibt eine Bildungskoordinatorin, die die Landessprachkurse strategisch koordiniert und Interessierte in Sprachkurse verschiedener Anbieter vermittelt.

Welche Faktoren tragen zum Gelingen des Modells VHS Chance bei?

Staecker: Als relativ große Volkshochschule, die zur Stadt gehört und viele Angestellte hat, haben wir in einigen Belangen gute Voraussetzungen.
Wichtig für das Gelingen sind besonders die Bildungsketten vor Ort. Unsere Kurse finden an mehreren Standorten statt, um die Teilnehmer*innen in ihren Wohnvierteln zu erreichen. Dort gibt es jeweils Deutschkurse, Grundkurse und schulabschlussbezogene Kurse.
Man braucht ein Team, das mitzieht und bereit ist, sich auf etwas Neues einzulassen  - und sich viel auszutauschen und abzustimmen.

Ist das Modell übertragbar auf andere Volkshochschulen? Welche Tipps würden Sie geben?

Staecker: Den Kerngedanken des Modells, die Übergänge zu stärken und von den Bildungsbiografien der Teilnehmer*innen auszugehen, kann man in jedem Fall übertragen auf andere Volkshochschulen und Bildungsträger.  Zudem braucht es auf konzeptioneller Ebene Kriterien zur Erfassung des Lernstandes, die mit Leben gefüllt werden müssen. Diese sind wichtig, um die Übergänge gut gestalten zu können.

Gunzenheimer: Die Einrichtung einer Bildungsberatungsstelle als Schnittstelle ist sehr empfehlenswert. Vernetzung kostet viel Zeit und bringt keine sofort messbaren Erfolge, zahlt sich jedoch langfristig aus.

Staecker: Ich würde raten, Drittmittelprojekte anzustoßen, um Neues auszuprobieren und gegebenenfalls zu verstetigen und sich good-practice Beispiele anderer Bildungsanbieter anzuschauen.

Martina Poick, Berit Staecker, Janine Gunzenheimer (v.l.)

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie aktuell?

Staecker: Wir arbeiten in einem Spannungsfeld zwischen den Bedarfen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, den vorhandenen Ressourcen und der Erfüllung des politischen Bildungsauftrages. Die große Nachfrage nach Deutschkursen und Kursen des Zweiten Bildungsweges können wir aktuell leider nicht decken.

Poick: Es wird zudem immer schwieriger, qualifizierte Lehrkräfte für die Bereiche Zweiter Bildungsweg, Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache und auch für Alphabetisierung zu finden. Langfristige Personalplanung ist eine große Herausforderung.
Das Gespräch führte Katharina Reinhold am 04. Juli 2018 in Hannover.

Kurzporträt: Grundbildung in Hannover

Autorin

Katharina Reinhold ist freiberufliche Redakteurin und Lektorin für Publikationen im Print- und Online-Bereich. Seit 2000 ist sie als Trainerin und Vermittlerin tätig.

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