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Grundbildung

Vertraute Wege: Wie Nähe die Motivation steigert

Der vhs-Lerntreff Behring24 in Dresden zeigt, wie moderne Grundbildung funktioniert. Das Projekt gewann den zweiten Platz beim Innovationspreis Weiterbildung 2024 in Sachsen. Die Verantwortlichen erklären im Interview, warum kurze Wege und ein offenes Konzept den Unterschied machen.

Anne Deny, veröffentlicht am 10.12.2024

Die sächsische Bildungslandschaft feiert einen Erfolg: Der „vhs-Lerntreff Behring24“ belegte den zweiten Platz beim Innovationspreis Weiterbildung 2024. Das Projekt, eine Kooperation des Sächsisches Umschulungs- und Fortbildungswerk Dresden e. V. und der VHS Dresden e. V., bietet Lernenden ab 16 Jahren die Möglichkeit, ihre Lese-, Schreib-, Rechen- und digitalen Kompetenzen zu verbessern. Der Schlüssel zum Erfolg? Das verraten Ihnen im Interview Georg Mühlberg, Anika Gränz und Stefanie Elies: 

  • Georg Mühlberg ist Koordinator und Dozent im vhs-Lerntreff. Er arbeitet beim Sächsischen Umschulungs- und Fortbildungswerk. 
  • Anika Gränz übernimmt die Administration und Umsetzung des vhs-Lerntreffs. Sie ist Referentin für barrierefreies Lernen an der VHS Dresden. 
  • Stefanie Elies unterstützte den vhs-Lerntreff bis zum 31.05.2024 im Bereich der Administration und im Aufbau. Sie ist hauptamtliche Mitarbeiterin an der VHS Dresden.  

Interview mit Georg Mühlberg, Anika Gränz und Stefanie Elies

Der Slogan des vhs-Lerntreffs Behring24 ist „Lernen gleich nebenan“. Wie wirkt sich die Nähe des Lernangebots auf die Motivation der Lernenden aus?

Georg Mühlberg: Die kurzen Wege bauen Barrieren ab. Einige Teilnehmende kommen aus sozialen Projekten des Sächsischen Umschulungs- und Fortbildungswerk Dresden e. V. (SUFW) zu uns und haben dadurch keinen zusätzlichen Weg. Auch findet das Lernen dadurch für viele in einem vertrauten Umfeld statt. Das ist vorteilhaft, weil sich die meisten in Bezug auf das Lernen und die Inhalte schon unsicher genug fühlen.

Stefanie Elies: Unserer Erfahrung nach wird der Motivationsfaktor des Weiteren durch die Möglichkeit des Kennenlernens stark beeinflusst. Wie vorab erwähnt, ist ein Großteil der Betroffenen in sozialen Projekten beziehungsweise Bildungsmaßnahmen des SUFW eingebunden. Der Lerntreff nimmt zunächst den Status eines zusätzlichen Lernangebotes ein, welches dabei unterstützt, Defizite abzubauen, die im Rahmen der eigentlichen Bildungsangebote im SUFW nicht aufgefangen werden können. Betroffene, die in ihren Grundkompetenzen wie zum Beispiel Lesen, Schreiben, Rechnen oder dem Umgang mit der digitalen Welt den Wunsch nach Weiterentwicklung verspüren, können auf freiwilliger Basis den Lerntreff direkt im Haus besuchen. Da der Standort Behringstraße 24 des SUFW als Ort bereits bekannt ist, entfällt hier eine der größten Hürden. Daher auch der Slogan „Lernen gleich nebenan“. Lernende, die bereits durch die Teilnahme an einer anderen Bildungsmaßnahme mit dem SUFW verbunden sind, haben so die Gelegenheit, auf einem sehr kurzen Weg den vhs-Lerntreff näher kennenzulernen. Ängste und Hemmungen können so abgebaut werden, da die Möglichkeit besteht, sich ohne Zwang und Druck ein genaues Bild davon zu machen, wie im Treff gelernt wird oder welche Erwartungshaltungen gegeben sind. Einige der Teilnehmenden, die ihre Bildungsmaßnahme im SUFW beendet haben, kommen auch weiterhin zum Lerntreff, um an ihren Fähigkeiten zu arbeiten.

Versetzen Sie sich nochmal zurück in die Anfangszeit. Im April 2023 haben Sie mit den konkreten Planungen für den Lerntreff begonnen. Was waren die wichtigsten Erkenntnisse aus der Vorbereitungsphase des Projekts?

Georg Mühlberg: Vom Planungsbeginn im April bis zum tatsächlichen Start einen Monat später war nicht viel Zeit und allein das Bestellen und Einrichten von Material, Technik und Einrichtungsgegenständen war ein echter Kraftakt. Parallel musste vorgedacht werden, wen wir erreichen wollen und wie. Eine Erkenntnis dieser Zeit ist, wie wertvoll und wichtig die Zusammenarbeit der beiden etablierten Bildungsträger VHS und SUFW ist. Ohne den Erfahrungsschatz der Koordinator*innen und Lehrkräfte verschiedener Projekte und Bereiche der beiden Institutionen hätten wir das Vorhaben in dieser kurzen Zeit nicht so zügig zum Laufen bringen können.

Letztendlich hat sich dadurch gleich von Anfang an ein Team gefunden, das für die Idee hinter dem vhs-Lerntreff brennt – das hat unheimlich geholfen und motiviert.

Georg Mühlberg

Stefanie Elies: Da der Zeitraum von Bekanntmachung der Ausschreibung bis zum Start des Lernangebotes recht knapp bemessen sowie die Projektlaufzeit zunächst auf ein dreiviertel Jahr ausgelegt war, blieb kaum Zeit, eine flächendeckende Bewerbung des vhs-Lerntreffs zu gewährleisten. Die Erreichung der Zielgruppe im Bereich der Grundbildung erweist sich weiterhin als ein herausfordernder Aspekt. Um sicherzustellen, dass direkt zu Beginn dennoch Lernende ihren Weg in das Angebot finden konnten, war diesbezügliche eine zielführende Zusammenarbeit notwendig. Bei der ersten Überlegung, die Förderung des Lerntreffs zu beantragen und eine Konzeption zu erstellen, war bereits frühzeitig klar, dass ein Kooperationspartner benötigt wird, in dessen Klientelspektrum Menschen mit geringer Literalität anzutreffen sind. Das SUFW stellt in Dresden eine anerkannte Institution dar, die unter anderem in den Bereichen der Schulsozialarbeit und Inklusion, Berufsvorbereitung, Aus- und Weiterbildung, Aktivierungs-, Beschäftigungs- und Vermittlungsmaßnahmen, Jugend- und Familienarbeit tätig sowie in Migrationsprojekten aktiv ist. In den sozialen Projekten befinden sich Menschen mit den verschiedensten sozialen Hintergründen, Bedürfnissen und Lern- beziehungsweise Bildungsständen. Dahingehend ist der erste Kontakt zu potenziellen Betroffenen bereits vorhanden und ein beginnendes Vertrauensverhältnis gegeben. Die Chance, Teilnehmenden den Weg in den Lerntreff zu ebnen, war dadurch um einiges größer. Im Nachgang können wir sagen, dass dieses Konzept aufging und eine wertvolle Erfahrung für weitere Entwicklungsprozesse in Bezug auf Kursplanung sowie Teilnehmergewinnung darstellt.

Wie unterscheidet sich Ihre Aufgabe als Dozent im Lerntreff von der in einem klassischen Kurs? 

Georg Mühlberg: Als Dozent im Lerntreff nehme ich mehr die Rolle des Mentors und Lernbegleiters ein, wobei auch immer wieder betont wird, dass wir alle voneinander lernen – gerade was den Austausch über verschiedene Anschauungen, Lebensumstände und kulturelle Besonderheiten betrifft. Ich folge keinem speziellen Lehrbuch oder Lehrplan, es gibt auch keine Dokumentation der Anwesenheit oder Abschlussprüfungen. So konnten wir uns mehr auf die individuellen Bedürfnisse der Teilnehmenden und den individuellen Lernfortschritt konzentrieren. Manche weiterführenden Interessen und Lernbedarfe kamen erst im Laufe der Zeit zum Vorschein. Da der Lerntreff thematisch offen ist und wir Lernmaterial aus verschiedenen Bereichen nutzen, ist es eine neue Erfahrung, thematisch so frei zu sein.

Da sich die Teilnehmenden nicht anmelden oder registrieren müssen, fällt auch der verpflichtende Kurscharakter weg. Erstaunlicherweise hat sich eine Verbindlichkeit über die freiwillige Teilnahme trotzdem eingestellt und die meisten Teilnehmenden sind regelmäßig erschienen oder haben ein*n Kolleg*in mitgebracht.

Georg Mühlberg

Welche Lernbereiche stoßen bei den Teilnehmenden auf besonderes Interesse?

Georg Mühlberg: Dreh- und Angelpunkt ist die Lebenswirklichkeit unserer Teilnehmenden. So kommen wir zu Beginn bei einer Tasse Tee und kleinen Snacks ins Gespräch über anstehende Themen im beruflichen und privaten Leben. Daraus ergibt sich oft der Bedarf an einer sichereren Beherrschung der Schriftsprache oder der Wunsch nach mehr Sicherheit in der deutschen Sprache. Beide Bereiche sind häufig gefragt, wobei für die muttersprachlichen Teilnehmenden mehr das Lesen und Schreiben im Vordergrund steht und für die Teilnehmenden mit Migrationsgeschichte oft das Sprechen und die Grammatik. Der mündliche und persönliche Austausch spielt hier eine besonders große Rolle. Aber auch Angebote zu Themen der Kommunikation oder Verbesserungen von Fähigkeiten im Rechnen und im Umgang mit Online-Medien sind sehr gefragt. Neben dem Lernen in den Räumlichkeiten der Behringstraße 24 führen wir regelmäßig Exkursionen zu Lernorten der Stadt durch. Highlights waren dabei unsere Dresdner Stadtrundfahrt, der Besuch einer audio-visuellen Ausstellung sowie eine interaktive Führung durch die Dresdner Festung und das Schulmuseum. Neu hinzugekommen in diesem Jahr sind Seminare zur politischen Grundbildung – diese werden seitens der VHS-Dresden von Anika Gränz angeboten.

Im September wurde der Lerntreff mit dem Innovationspreis Weiterbildung des Freistaates Sachsen ausgezeichnet. Dazu herzlichen Glückwunsch! Was macht den vhs-Lerntreff Behring24 aus Ihrer Sicht preiswürdig?

Georg Mühlberg: Vielen Dank! Über die Wertschätzung unserer Arbeit haben wir uns sehr gefreut, da wir nicht damit gerechnet haben, dass unser Lerntreff den 2. Preis erhält. In der deutschen Bildungslandschaft werden Menschen von klein auf separiert und in speziellen Gruppen und Schulformen unterrichtet. An unserem Lerntisch versammeln sich aktuell Menschen zwischen 16 und 60, mit und ohne Migrationsgeschichte, mit oder ohne Berufsabschluss. Einige haben einen diagnostizierten Förderbedarf, andere suchen Unterstützung beim Nachholen eines Schulabschlusses. Viele genießen die intime Lernatmosphäre und trauen sich womöglich später auch einen regulären Kursbesuch zu. Mit diesem unkonventionellen Blick auf Bildung und Lernen haben wir etwas – in dieser Form – Einzigartiges geschaffen.

Stefanie Elies: Die Auszeichnung war für uns eine große positive Überraschung, da sich natürlich auch andere Träger und Einrichtungen, mit ebenso guten Herangehensweisen sowie innovativen Ideen und Gedanken, auf den Preis beworben haben. Vor diesem Hintergrund freuen wir uns über diese Anerkennung umso mehr.

Der Innovationspreis Weiterbildung des Freistaates Sachsen bezieht sich nicht nur auf die innovative Grundidee, sondern betrachtet auch den Aspekt der Teilhabe. Mit dem vhs-Lerntreff Behring24 wird nicht nur am Tisch gelernt, sondern auch Dresden bewusst als Lernort betrachtet. Das Lernen in Alltagssituationen spielt dabei eine wichtige Rolle.

Stefanie Elies

Beispielsweise wurde ein gemeinsamer Besuch im Eiscafé zu einer Lektion des Lesens und Verstehens. Sicherlich kann eine Speisekarte auch direkt im Unterricht behandelt werden, allerdings ist der Lerneffekt in der authentischen Umgebung effektiver. Auch die Museumsbesuche sowie Stadterkundungen stellten einen besonderen Erfahrungswert für die Teilnehmenden dar. Mit einer Logopädin im Team haben wir nicht nur die Lese- und Schreibkenntnisse in den Blick genommen, sondern die Person in ihrer gesamten Entwicklung betrachtet.

Ein Großteil des Erfolges muss den Kollegen und Kolleginnen direkt vor Ort zugesprochen werden. Die Dozierenden waren von Beginn an mit sehr viel Einsatz dabei, hatten stets ein offenes Ohr für die Teilnehmenden und sind fachgerecht auf Bedürfnisse und Wünsche eingegangen. Ein offenes Lernangebot, welches auf Freiwilligkeit basiert, ist auf ein motiviertes Team angewiesen. Das Vertrauensverhältnis nimmt hierbei eine sehr wichtige Rolle ein. Da Teilnehmende selbstständig entscheiden, ob und wie oft sie kommen, muss diese Ebene bestmöglich beim ersten Besuch geschaffen werden. Mit unserem Team ist uns dies gelungen. Insgesamt betrachtet kann gesagt werden, dass in Behring24 viele Aspekte zusammentreffen, die sich miteinander verknüpfen und eine erfolgreiche Gesamtkonzeption bilden.

Welche Pläne haben Sie für die Weiterentwicklung des vhs-Lerntreffs?

Anika Gränz: Um die Verwaltung des Angebotes sowie die Betreuung der Kursleitungen über den Projektzeitraum hinaus sicherzustellen, ist das Angebot mit Projektende im Juni 2024 in den Teilbereich „Inklusion und barrierefreies Lernen“ übergegangen. Damit sind die personellen Rahmenbedingungen für die Öffentlichkeitsarbeit sowie das Kursmanagement sichergestellt. Mit Übergang in den Teilbereich „Inklusion und barrierefreies Lernen“ wurde der Lerntreff auch um den Themenkomplex politische Grundbildung mit Fokus auf das Superwahljahr 2024 erweitert. Die Angebote werden durch die Mitarbeitenden der Volkshochschule ausgestaltet.

Die Honorare der Kursleitungen im Lerntreff, Verbrauchs- und Unterrichtmaterialien werden weiterhin aus Drittmitteln finanziert.

Aufgrund fehlender Finanzierungsmöglichkeiten in Sachsen für Alphabetisierung und Grundbildung im Allgemeinen sowie solch offene Lernkonzepte im Speziellen steht für uns derzeit daher weniger die Weiterentwicklung über das bereits genannte hinaus als vielmehr die Sicherstellung einer grundständigen dauerhaften Finanzierung des Lerntreffs auch nach dem Jahr 2025 im Fokus.

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  • Volkshochschule Dresden e.V.